∞ Leseprobe "Ewig in meinem Herzen" ∞

Wenn man wach wird, aber noch so halb im Traum hängt, kann man verrückte Dinge anstellen: Zum Beispiel die Farbe der Straße ändern, auf der man gerade spaziert. Der Verstand merkt, dass er allmählich die Kontrolle wieder übernimmt, während einem das Unterbewusstsein immer noch eine fiktive Welt vorgaukelt. Das war zumindest meine Vorstellung von diesem Szenario. “Ein Klartraum, auch luzider Traum genannt, ist ein Traum, in dem der Träumer sich dessen bewusst ist, dass er träumt” hatte ich auf Wikipedia gelesen und seither immer wieder versucht, mittels Meditation diesen Zustand zu erreichen. Dummerweise hatte ich noch nicht viel Übung darin und schlief bislang jedes Mal ein. Manchmal hatte ich aber Glück und stellte dann beim Aufwachen fest, dass ich mich immer noch teilweise im Anderswo befand.

Genauso erging es mir in diesem Moment. Langsam aber sicher vermischte sich jedoch die leere, rote Teerstraße unter meinen Füßen mit jener Umgebung, in der ich mich tatsächlich befand. In der Ferne hörte ich kichernde Kinder, die Federung vom 3-Meter-Sprungbrett und das Wasserrauschen, wenn jemand von der Rutsche ins Becken platschte. Die Geräusche wurden immer lauter und das Bild meiner einsamen Fußgängerzone verschwand. Zurück in der Realität angekommen, blinzelte ich in einen wolkenlosen Himmel, um sogleich festzustellen, dass ich mich inzwischen nicht mehr im Schatten befand. Die Sonne war weitergewandert und mir war so heiß, dass es sich anfühlte, als würde sie nur auf mich scheinen. Ohne aufzusehen, kramte ich aus dem Rucksack neben mir eine Flasche heraus, schraubte sie auf und schüttete mir Wasser über das Gesicht und die Haare. Den Rest trank ich mit ein paar wenigen Zügen aus. Tut das gut.

Mit der Zeit nahm ich auch wieder den Boden unter mir wahr. Ich lag mit dem Rücken auf einem großen, blauen Handtuch, das mir meine Schwester vor mehr als zehn Jahren zusammen mit einer 20er-Karte für das Freibad geschenkt hatte. Ich nahm einen tiefen Atemzug und musste daran denken, dass mich den ganzen Tag schon so eine merkwürdige Stimmung begleitete. Sie genau zu definieren, war mir nicht möglich. Es ging mir nicht schlecht, aber auch nicht gut, eher ein bedrückender Schwebezustand irgendwo dazwischen. Wann immer ich mich so gefühlt hatte, waren an diesen Tagen meist besondere Dinge geschehen - nicht immer nur gute. Möglicherweise war es mir früher schon so ergangen, aber die Premiere, an die ich mich klar erinnern konnte, fand in meinem achten Lebensjahr statt. Genau wie heute hatte ich das Gefühl gehabt, dass irgendetwas in der Luft lag und ich schien der Einzige gewesen zu sein, der diese Botschaft empfangen hatte. Als ich damals meine Mutter fragte, was das sein könnte, erklärte sie es mir als schlechte Laune, die man durchaus schon mal den ganzen Tag haben könnte. Aber ich wusste zu jener Zeit genau, was schlechte Laune war und diese Empfindungen waren etwas anderes. Es fühlte sich an, als wäre es keine von mir selbst erzeugte Emotion, sondern als hätte sie mir jemand anderes in den Bauch geschoben. Wie sich damals dann herausstellte, war eine der Katzen meines Großvaters von einem Auto überfahren worden. Kessi war die älteste und meine Lieblingskatze gewesen. Wenn ich meinen Opa besuchen kam, schlich sie bereits eine halbe Stunde, bevor ich da war, an der Haustür hin und her. Opa meinte immer, sie habe gespürt, dass ich kommen würde. Und an jenem Tag war ich mir sicher, gespürt zu haben, dass sie mich verlassen hatte.

Einige Male erlebte ich diese besonderen Tage aber auch ohne ein erkennbares Ereignis dazu. Entweder hatte ich es nicht erkannt, oder es betraf mein eigenes Leben einfach nicht. Häufig stellte ich mir die Frage, ob ich in diesen Momenten mit anderen Menschen verbunden war und deren Freud und Leid spüren konnte. Ich war stets ein fröhlicher Junge gewesen und durfte eine unbeschwerte Kindheit erleben. Deshalb empfand ich diese Tage immer als sehr eigenartig. Meine Eltern nannten es einen Zufall, selbst als mir zwei Jahre später dieses Gefühl eine weitere Vorwarnung gab und damals während unseres Griechenland-Urlaubs in unser Haus eingebrochen wurde. Dass es auch bei positiven Ereignissen funktionierte, zeigte sich im Alter von dreizehn, als meine Lehrerin einen fünfstelligen Betrag in der Lotterie gewann. Um glaubhafter zu sein, begann ich alles zu notieren, teilweise sogar mit einer genaueren Schilderung meiner Empfindungen. Dennoch winkten meine Eltern nur ab und nannten es ein jugendliches Hirngespinst. Ich hatte zu viele Mystery-Filme gesehen, war seit eh und je ihre Universalerklärung. Erst als sie mich rügten, ich solle mit dieser Show nicht ständig um Aufmerksamkeit betteln, sondern mich lieber auf die Schule konzentrieren, hörte ich auf, ihnen davon zu erzählen. Mein besonderes Tagebuch führte ich jedoch weiter. Manche Einträge lagen Jahre auseinander, andere nur Wochen. Ich hatte kein Muster erkennen können. Jederzeit konnte es wieder geschehen. Als ich noch jünger war, machte es mir eine Heidenangst, wenn ich direkt nach dem Aufwachen gemerkt hatte, es würde wieder einer dieser Tage werden. Die schlechten Geschichten überwogen leider. Heute fühlte es sich eher nach einem guten Ereignis an, wobei ich mich dahingehend auch schon zur Genüge getäuscht hatte.

Ich drehte mich auf den Bauch und wischte mit dem Handtuch über mein nasses Gesicht. Danach berührte ich mich am Kinn und an den Wangen. Es war immer noch ungewohnt für mich, an diesen Stellen einen Bart zu spüren. Die Stoppel waren inzwischen lang genug, dass sie nicht mehr piksten. Als ich mich aus Faulheit ein paar Tage nicht rasiert hatte, rieten mir meine Schwester und mein bester Freund unabhängig voneinander, ihn stehen zu lassen. Angeblich wirkte ich dadurch endlich wie ein Mann und nicht mehr wie ein Sonnyboy. Mit 26 Jahren durfte man ruhig ein bisschen erwachsener aussehen. Laut meinem Kumpel wirkte man erfahrungsgemäß mit Bart wesentlich attraktiver, weshalb er seinen schon seit Jahren trug. Frauen kennenzulernen war aber noch nie ein Problem für mich gewesen, die kamen stets auf mich zu, oftmals ganz ohne mein Zutun. Es gestaltete sich eher schwierig, sie wieder loszuwerden.

Plötzlich begann in der Nähe Musik aus einem Handy zu trällern, was mich sofort aus den Gedanken riss. Es war zwar ziemlich leise gestellt, dennoch erkannte ich den westernlastigen Song nach wenigen Sekunden auf Anhieb: Knights Of Cydonia von Muse. Ein richtig geiler Track!

Neugierig richtete ich mich auf, um zu erfahren, wer sich da gerade meine Lieblingsband anhörte. Keine vier Meter entfernt lag eine junge, rothaarige Frau im schwarzen Bikini auf dem Rücken. Ihr ganzer Körper zappelte rhythmisch auf ihrer grauen Decke. Ihre Füße wippten im Takt, während sie mit den Händen auf ihre Oberschenkel trommelte. Ich hatte noch nie jemanden im Liegen tanzen sehen. Es war ein herrlich amüsantes Bild. Ihre Figur entsprach zwar nicht unbedingt meiner Idealvorstellung von Frau, aber der Muse-Track machte mich neugierig. Wenn schon mal eine diesen Song mag! Lenny, lass dir was einfallen!


(...) Eine Horde junger Lämmer kam auf uns zugerannt und ich trat sofort auf die Bremse.

“Sind die süß!”, strahlte Hanna, öffnete die Tür und stieg aus.

“Määh, Määh!”, schallte uns in unterschiedlichen Tonlagen entgegen. Etwas weiter hinten waren erwachsene Schafe. Der Hütehund versuchte sie zusammen zu halten, aber die meisten taten erst mal, was sie wollten. Inzwischen waren wir komplett umzingelt.

“Komm raus. Schau dir das an!”, rief Hanna, die versuchte, die vorbeilaufenden Tiere zu berühren.

“Oh mein Gott, wir sind umzingelt! Was für ein Di-Lämmer!”, scherzte ich und plötzlich steckte ein großes Schaf seinen Kopf für einen kurzen Moment in mein Fenster.

“Denkst du, die werden alle geschoren?”, fragte sie und ich zuckte mit den Schulten.

“Jetzt komm schon, du Hosenscheißer!”, provozierte sie mich nach einer Weile.

“Pass bloß auf, was du sagst, sonst werd ich dich scheren, mir aus deinen roten Locken einen Pulli stricken und ihn als Trophäe tragen, wann immer wir uns sehen!"

Sie stieg wieder ins Auto und blickte mich grinsend an. (...)